Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels (1967)

Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978.

 

8. Kapitel   DIE NEGATION UND DER KONSUM IN DER KULTUR

»Wir werden eine politische Revolution erleben? Wir, die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben, was Sie wünschen? Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen Geschichte beurteile, so werden Sie mir nicht einwerfen, seine ganze Geschichte sei verfälscht, und seine ganze jetzige Öffentlichkeit stelle nicht den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen, welche Sie wollen, überzeugen Sie sich, daß man nicht aufhört – und Sie werden zugeben, daß die Zensur niemand hindert aufzuhören –, die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen?«

Ruge (Brief an Marx, März 1843).

180.

Die Kultur ist, in der in Klassen geteilten geschichtlichen Gesellschaft, die allgemeine Sphäre der Erkenntnis und der Vorstellungen des Erlebten; d.h. sie ist jenes Vermögen der Verallgemeinerung, das getrennt besteht, als Teilung der intellektuellen Arbeit und als intellektuelle Arbeit der Teilung. Die Kultur hat sich von der Einheit der Gesellschaft des Mythos abgehoben, »wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen?« (Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems). Indem sie ihre Unabhängigkeit gewinnt, fängt die Kultur eine imperialistische Bewegung der Bereicherung an, die gleichzeitig der Niedergang ihrer Unabhängigkeit ist. Die Geschichte, die die relative Autonomie der Kultur und die ideologischen Illusionen über diese Autonomie schafft, drückt sich auch als Kulturgeschichte aus. Und die gesamte Eroberungsgeschichte der Kultur läßt sich als die Geschichte der Offenbarung ihrer Unzulänglichkeit, als ein Fortgang zu ihrer Selbstauflösung begreifen. Die Kultur ist der Ort der Suche nach der verlorenen Einheit. Bei dieser Suche nach der Einheit ist die Kultur als getrennte Sphäre gezwungen, sich selbst zu verneinen.

181.

Der Kampf zwischen Tradition und Neuerung, der das innere Entwicklungsprinzip der Kultur der geschichtlichen Gesellschaften ist, kann nur durch den ständigen Sieg der Neuerung fortgeführt werden. Die Neuerung in der Kultur wird indessen von nichts anderem getragen, als von der totalen geschichtlichen Bewegung, die, indem sie sich ihrer Totalität bewußt wird, nach der Aufhebung ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen strebt und auf die Abschaffung jeder Trennung hingeht.

182.

Der Aufschwung der Erkenntnisse der Gesellschaft, der das Begreifen der Geschichte als das Herz der Kultur beinhaltet, gelangt zu einer unwiderruflichen Selbsterkenntnis, die durch die Zerstörung Gottes ausgedrückt wird. Aber diese »Voraussetzung aller Kritik« ist zugleich auch die erste Verpflichtung zu einer endlosen Kritik. Wo keine Verhaltensregel mehr fortbestehen kann, wird die Kultur durch jedes ihrer Resultate ihrer Auflösung näher gebracht. Wie die Philosophie im Augenblick, in dem sie ihre volle Autonomie erlangt hat, muß jede autonom gewordene Disziplin zusammenbrechen, und zwar zunächst als Anspruch kohärenter Erklärung der gesellschaftlichen Totalität und schließlich sogar als innerhalb ihrer eigenen Grenzen brauchbare parzellierte Instrumentierung. Der Mangel an Rationalität der getrennten Kultur ist das Element, das sie zu verschwinden verdammt, denn in ihr ist der Sieg des Rationellen bereits als Forderung vorhanden.

183.

Die Kultur ist aus der Geschichte entstanden, die die Lebensart der alten Welt aufgelöst hat, aber als getrennte Sphäre ist sie noch nichts weiter, als das Verständnis und die sinnliche Kommunikation, die in einer teilweise geschichtlichen Gesellschaft partiell bleibt. Sie ist der Sinn einer allzuwenig sinnigen Welt.

184.

Das Ende der Kulturgeschichte äußert sich auf zwei entgegengesetzten Seiten: im Projekt ihrer Aufhebung in der totalen Geschichte und in der Veranstaltung ihrer Aufrechterhaltung als toter Gegenstand in der spektakulären Kontemplation. Die eine dieser Bewegungen hat ihr Schicksal mit der gesellschaftlichen Kritik, und die andere das ihre mit der Verteidigung der Klassenherrschaft verknüpft.

185.

Jede der beiden Seiten des Endes der Kultur existiert einheitlich sowohl in allen Aspekten der Erkenntnisse als in allen Aspekten der sinnlichen Vorstellungen – existiert also in dem, was die Kunst im allgemeinsten Sinne war. Im ersten Fall stehen einander die Akkumulation fragmentarischer Kenntnisse, die darum unbrauchbar werden, weil die Billigung der bestehenden Bedingungen auf ihre eigenen Kenntnisse schließlich verzichten muß, und die Theorie der Praxis gegenüber, die die einzige Inhaberin der Wahrheit aller Kenntnisse ist, indem sie als einzige über das Geheimnis ihres Gebrauchs verfügt. Im zweiten Fall stehen einander die kritische Selbstzerstörung der alten gemeinsamen Sprache der Gesellschaft und ihre künstliche Wiederzusammensetzung im Warenspektakel, die illusorische Vorstellung des Nichterlebten gegenüber.

186.

Die Gesellschaft muß, wenn sie die Gemeinschaft der Gesellschaft des Mythos verliert, alle Bezugspunkte einer wirklich gemeinsamen Sprache verlieren, bis zu dem Moment, da die Entzweiung der untätigen Gemeinschaft durch das Gelangen zur wirklichen geschichtlichen Gemeinschaft überwunden werden kann. Sobald sich die Kunst, die diese gemeinsame Sprache der gesellschaftlichen Untätigkeit war, zur unabhängigen Kunst im modernen Sinn herausbildet, wenn sie aus ihrem ursprünglichen religiösen Universum hervortaucht und zur individuellen Produktion getrennter Werke wird, erfährt sie als besonderer Fall die Bewegung, die die Geschichte der gesamten getrennten Kultur beherrscht. Ihre unabhängige Behauptung ist der Anfang ihrer Auflösung.

187.

Daß die Sprache der Kommunikation verloren wurde, dies wird positiv durch die moderne Auflösungsbewegung aller Kunst, durch ihre formale Vernichtung ausgedrückt. Was diese Bewegung negativ ausdrückt, ist die Tatsache, daß eine gemeinsame Sprache wiedergefunden werden muß – nicht mehr in der einseitigen Schlußfolgerung, die für die Kunst der geschichtlichen Gesellschaft immer zu spät kam, und anderen von dem sprach, was ohne wirklichen Dialog erlebt wurde, und diese Mangelhaftigkeit des Lebens zuließ –, aber auch daß diese Sprache in der Praxis wiedergefunden werden muß, die die direkte Tätigkeit und deren Sprache in sich vereint. Es geht darum, die Gemeinsamkeit des Dialogs und das Spiel mit der Zeit, die von dem poetisch-künstlerischen Werk vorgestellt wurden, tatsächlich zu besitzen.

188.

Wenn die unabhängig gewordene Kunst ihre Welt in leuchtenden Farben malt, ist ein Moment des Lebens alt geworden, und mit leuchtenden Farben läßt er sich nicht verjüngen, sondern nur in der Erinnerung wachrufen. Die Größe der Kunst beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung des Lebens zu erscheinen.

189.

Die geschichtliche Zeit, die auf die Kunst übergreift, hat sich vom Barock an zunächst in der Sphäre der Kunst selbst ausgedrückt. Das Barock ist die Kunst einer Welt, die ihr Zentrum verloren hat: die vom Mittelalter anerkannte letzte mythische Ordnung im Kosmos und in der irdischen Regierung – die Einheit des Christentums und das Gespenst eines Kaiserreichs – ist zusammengebrochen. Die Kunst der Veränderung muß in sich das ephemere Prinzip tragen, das sie in der Welt vorfindet. Sie hat, so sagt Eugenio d’Ors, »das Leben gegen die Ewigkeit« gewählt. Das Theater und das Fest, das theatralische Fest, sind die herrschenden Momente der barocken Gestaltung, in der jeder besondere künstlerische Ausdruck seinen Sinn erst durch seine Verweisung auf das Bühnenbild eines konstruierten Ortes erhält, auf eine Konstruktion, die ihr eigenes Vereinigungszentrum sein muß: und dieses Zentrum ist das Vergehen, das als bedrohtes Gleichgewicht in die dynamische Unordnung von allem eingeschrieben ist. Die manchmal übertriebene Wichtigkeit, die der Begriff des Barocks in der zeitgenössischen ästhetischen Diskussion erhalten hat, äußert das Bewußtwerden der Unmöglichkeit eines künstlerischen Klassizismus: die Anstrengungen, die zugunsten eines normativen Klassizismus oder Neoklassizismus seit drei Jahrhunderten unternommen wurden, führten lediglich zu kurzen, künstlichen Konstruktionen, die die äußere Sprache des Staates sprachen, die Sprache der absoluten Monarchie oder der revolutionären Bourgeoisie im römischen Gewand. Von der Romantik bis zum Kubismus folgte dem allgemeinen Verlauf des Barocks schließlich eine immer stärker individualisierte Kunst der Negation, die sich fortwährend erneuerte, bis zur vollständigen Zerstückelung und Negation der künstlerischen Sphäre. Das Verschwinden der geschichtlichen Kunst, die mit der internen Kommunikation einer Elite verknüpft war, die ihre halbunabhängige gesellschaftliche Basis in den teilweise ludistischen Bedingungen hatte, die die letzten Aristokratien noch erlebten, äußert auch die Tatsache, daß der Kapitalismus die erste Klassenherrschaft erfährt, die ihren Mangel an jeder ontologischen Qualität bekennt; und deren Macht, die in der bloßen Wirtschaftsverwaltung wurzelt, ebenso der Verlust jeder menschlichen Meisterschaft ist. Das Barock als Ganzes, das für die künstlerische Schöpfung eine seit langem verlorene Einheit ist, findet sich gewissermaßen im jetzigen Konsum der gesamten künstlerischen Vergangenheit wieder. Die geschichtliche Kenntnis und Anerkennung der ganzen Kunst der Vergangenheit, die zurückblickend zur Weltkunst erhoben wird, relativieren sie zu einer globalen Unordnung, die ihrerseits auf einer höheren Stufe einen barocken Bau bildet, in dem die Produktion einer barocken Kunst selbst und all ihre Wiedererscheinungen verschmelzen müssen. Zum ersten Mal können die Künste aller Zivilisationen und aller Epochen allesamt gekannt und zugelassen werden. Diese »Er-Innerung« der Geschichte der Kunst ist, indem sie möglich wird, auch das Ende der Welt der Kunst. In dieser Epoche der Museen, wenn es keine künstlerische Kommunikation mehr geben kann, können alle alten Momente der Kunst gleichermaßen zugelassen werden, denn kein Moment der Kunst leidet mehr, bei dem gegenwärtigen Verlust der Kommunikationsbedingungen überhaupt, unter dem Verlust seiner besonderen Kommunikationsbedingungen.

190.

In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst als negative Bewegung, die die Aufhebung der Kunst in einer geschichtlichen Gesellschaft verfolgt, in der die Geschichte noch nicht erlebt wird, eine Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung. Je grandioser ihre Forderung ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung jenseits ihrer. Diese Kunst ist gezwungenermaßen Avantgarde und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.

191.

Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen, die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur auf eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen Sturmangriffs der revolutionären proletarischen Bewegung; und das Scheitern dieser Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feld, dessen Hinfälligkeit sie proklamiert hatten, eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund für ihre Immobilisierung. Der Dadaismus und der Surrealismus sind zugleich geschichtlich miteinander verknüpft und stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz, der für jede der beiden Strömungen auch den konsequentesten und radikalsten Teil ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit ihrer Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind.

192.

Der spektakuläre Konsum, der die alte Kultur, die angepaßte Wiederholung ihrer negativen Äußerung mit inbegriffen, gefroren konserviert, wird offen in seinem kulturellen Bereich zu dem, was er implizit in seiner Gesamtheit ist: die Kommunikation des Unmitteilbaren. Die höchste Zerstörung der Sprache kann hier flach als ein offizieller positiver Wert anerkannt werden, denn es geht nur darum, eine Versöhnung mit dem herrschenden Zustand der Dinge zur Schau zu tragen, bei dem jede Kommunikation freudig als abwesend proklamiert wird. Die kritische Wahrheit dieser Zerstörung, als wirkliches Leben der modernen Kunst und Dichtung ist natürlich versteckt, denn das Spektakel, dessen Funktion darin besteht, in der Kultur die Geschichte in Vergessenheit zu bringen, wendet in der Pseudoneuheit seiner modernistischen Mittel gerade die Strategie an, die es im Grunde ausmacht. So kann sich eine Schule der Neo-Literatur als neu ausgeben, die einfach zugibt, daß sie das Geschriebene um seiner selbst willen betrachtet. Sonst versucht die modernste – und mit der repressiven Praxis der allgemeinen Organisation der Gesellschaft am engsten verbundene – Tendenz der spektakulären Kultur, neben der bloßen Proklamation der hinreichenden Schönheit der Auflösung des Kommunizierbaren, durch »Gesamtkunstwerke« aus den aufgelösten Elementen ein komplexes neokünstlerisches Milieu wiederzusammenzusetzen; besonders gilt das für die Bemühungen der Integrierung der künstlerischen Trümmer und der technisch-ästhetischen Zwitter im Urbanismus. Dies ist, auf die Ebene der spektakulären Pseudokultur, die Übertragung jenes allgemeinen Projekts des entwickelten Kapitalismus, den Teilarbeiter als »fest in die Gruppe integrierte Persönlichkeit« wieder zu ergreifen, eine Tendenz, die von den jüngeren amerikanischen Soziologen beschrieben wurde (Riesman, Whyte usw.). Es ist überall dasselbe Projekt einer Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit.

193.

Die Kultur, die ganz und gar zur Ware geworden ist, muß auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. Clark Kerr, einer der fortgeschrittensten Ideologen dieser Tendenz, hat errechnet, daß der komplexe Produktions-, Distributions- und Konsumprozeß der Kenntnisse schon 29 % des amerikanischen Nationalprodukts jährlich mit Beschlag belegt; und er sieht voraus, daß die Kultur in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielen wird, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Kraftwagen und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.

194.

Die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich zur Zeit als Denken des Spektakels fortentwickelte, muß eine Gesellschaft rechtfertigen, die keine Rechtfertigungen hat, und sich zu einer allgemeinen Wissenschaft des falschen Bewußtseins herausbilden. Sie ist ganz durch die Tatsache bedingt, daß sie ihre eigene materielle Grundlage im spektakulären System weder denken kann noch will.

195.

Das Denken der gesellschaftlichen Organisation des Scheins wird seinerseits durch die verallgemeinerte Hilfs-Kommunikation, die es verteidigt, verdunkelt. Es weiß nicht, daß der Konflikt der Vater aller Dinge seiner Welt ist. Die Spezialisten der Macht des Spektakels, einer Macht, die im Inneren seines Systems einer Sprache ohne Antwort absolut ist, sind durch ihre Erfahrung der Verachtung und des Gelingens der Verachtung absolut korrumpiert; denn sie finden ihre Verachtung durch die Kenntnis des verachtungswerten Menschen bestätigt, der der Zuschauer wirklich ist.

196.

In dem spezialisierten Denken des spektakulären Systems findet eine neue Teilung der Aufgaben je nachdem statt, wie die Vervollkommnung dieses Systems selbst neue Probleme stellt: auf der einen Seite unternimmt die moderne Soziologie, die die Trennung allein mit Hilfe der begrifflichen und materiellen Instrumente der Trennung studiert, die spektakuläre Kritik des Spektakels; auf der anderen Seite bildet sich in den verschiedenen Disziplinen, in denen sich der Strukturalismus einwurzelt, die Apologie des Spektakels zum Denken des Nichtdenkens, zum berechtigten Vergessen der geschichtlichen Praxis heraus. Dennoch sind die falsche Verzweiflung der undialektischen Kritik und der falsche Optimismus der reinen Werbung des Systems als unterwürfiges Denken identisch.

197.

Die Soziologie, die zunächst in den Vereinigten Staaten damit begonnen hat, die mit der jetzigen Entwicklung geschaffenen Existenzbedingungen zur Diskussion zu stellen, hat zwar zahlreiche empirische Gegebenheiten anführen können, erkennt jedoch in keiner Weise die Wahrheit ihres eigenen Gegenstandes, weil sie nicht in ihm selbst die Kritik findet, die ihm immanent ist. Infolgedessen stützt sich die aufrichtig reformistische Tendenz dieser Soziologie lediglich auf die Moral, den gesunden Menschenverstand, auf höchst unpassende Appelle an die Mäßigung usw. Weil eine derartige Kritik das Negative, das im Zentrum ihrer Welt steht, nicht erkennt, beschreibt sie lediglich mit Nachdruck eine Art negativen Überschusses, der ihr beklagenswerterweise die Oberfläche dieser Welt zu überfüllen scheint, wie eine irrationelle parasitäre Wucherung. Dieser entrüstete gute Wille, der es selbst als solcher nicht weiter bringt als die äußere Form des Systems zu tadeln, hält sich für kritisch und vergißt dabei den wesentlich apologetischen Charakter seiner Voraussetzungen und seiner Methode.

198.

Diejenigen, die die Aufforderung zur Verschwendung in der Gesellschaft des wirtschaftlichen Überflusses als absurd oder gefährlich denunzieren, wissen nicht, wozu die Verschwendung dient. Sie verurteilen mit Undankbarkeit, im Namen der wirtschaftlichen Rationalität die treuen irrationellen Wächter, ohne welche die Gewalt dieser wirtschaftlichen Rationalität zusammenbrechen würde. Boorstin z.B., der in »Image« den Warenkonsum des amerikanischen Spektakels beschreibt, erreicht niemals den Begriff des Spektakels, weil er glaubt, das Privatleben oder die Idee der »ehrlichen Ware« aus dieser unheilvollen Übertreibung ausklammern zu können. Er versteht nicht, daß die Ware selbst die Gesetze gemacht hat, deren »ehrliche« Anwendung ebenso zur besonderen Realität des Privatlebens führt wie zu ihrer späteren Rückeroberung durch den gesellschaftlichen Konsum von Bildern.

199.

Boorstin beschreibt die Übertreibungen einer Welt, die uns fremd geworden ist, als Übertreibungen, die unserer Welt fremd sind. Aber die »normale« Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, auf die er sich implizite bezieht, wenn er die oberflächliche Herrschaft der Bilder, in der Sprache des psychologischen und moralischen Urteils, als das Produkt »unserer extravaganten Ansprüche« bezeichnet, besitzt weder in seinem Buch noch in seiner Epoche irgendeine Realität. Gerade weil für Boorstin das wirkliche menschliche Leben, von dem er spricht, in der Vergangenheit liegt, mit Einschluß der Vergangenheit der religiösen Ergebung, kann er nicht die ganze Tiefe einer Gesellschaft des Bildes begreifen. Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft.

200.

Die Soziologie, die glaubt, eine getrennt funktionierende industrielle Rationalität von der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens absondern zu können, kann bis dahin gehen, daß sie von der globalen industriellen Bewegung die Techniken der Reproduktion und der Übertragung absondert. So findet Boorstin den Grund der Ergebnisse, die er ausmalt, in dem unglücklichen, gleichsam zufälligen Zusammentreffen eines zu großen technischen Apparates zur Verbreitung der Bilder mit einer zu großen Anziehungskraft, die die Pseudo-Sensation auf die Menschen unserer Epoche ausübt. So läge der Grund für das Spektakel in der Tatsache, daß der moderne Mensch zu sehr Zuschauer sei. Boorstin begreift nicht, daß das Wuchern von vorgefertigten »Pseudoereignissen«, das er denunziert, aus der einfachen Tatsache hervorgeht, daß die Menschen in der massiven Realität des jetzigen gesellschaftlichen Lebens selbst keine Ereignisse erleben. Gerade weil die Geschichte selbst in der modernen Gesellschaft wie ein Gespenst umgeht, findet man Pseudogeschichte, die auf allen Ebenen des Konsums des Lebens gebaut wird, um das bedrohte Gleichgewicht der heutigen eingefrorenen Zeit zu erhalten.

201.

Die Behauptung der endgültigen Stabilität einer kurzen Frostperiode der geschichtlichen Zeit ist die unleugbare, bewußtlos und bewußt proklamierte Grundlage der heutigen Tendenz einer strukturalistischen Systematisierung. Der Standpunkt, den das antigeschichtliche Denken des Strukturalismus einnimmt, ist der der ewigen Gegenwart eines Systems, das nie geschaffen wurde und nie enden wird. Der Traum der Diktatur einer unbewußten vorgegebenen Struktur über jede gesellschaftliche Praxis konnte mißbräuchlich aus den Strukturmodellen gezogen werden, welche die Linguistik und die Ethnologie ausgearbeitet hatten (ja sogar die Funktionsanalyse des Kapitalismus), Modelle, die bereits unter diesen Umständen mißverstanden wurden, einfach deshalb, weil ein akademisches Denken schnell befriedigter mittlerer Angestellter, das vollständig in dem bewundernden Lob des bestehenden Systems versunken ist, jede Realität einfach auf die Existenz des Systems zurückführt.

202.

Zum Verständnis der »strukturalistischen« Kategorien, wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft, ist immer festzuhalten, daß die Kategorien Daseinsformen, Existenzbedingungen ausdrücken. Sowenig man den Wert eines Individuums nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man diese bestimmte Gesellschaft bewerten – und bewundern –, indem man die Sprache, in der sie zu sich selbst spricht, als unbestreitbar wahr annimmt. »Ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens [...] erklären [...]« Die Struktur ist das Kind der gegenwärtigen Macht. Der Strukturalismus ist das vom Staat garantierte Denken, das die gegenwärtigen Bedingungen der spektakulären »Mitteilung« als ein Absolutes denkt. Seine Art, den Code der Botschaften an sich selbst zu studieren, ist lediglich das Produkt und die Anerkennung einer Gesellschaft, in der die Mitteilung in der Form einer Kaskade hierarchischer Signale besteht. Es ist demnach nicht der Strukturalismus, der zum Beweis der übergeschichtlichen Gültigkeit der Gesellschaft des Spektakels dient; es ist im Gegenteil die Gesellschaft des Spektakels, die sich als massive Realität durchsetzt und zum Beweis des kalten Traums des Strukturalismus dient.

203.

Ohne Zweifel kann der kritische Begriff des Spektakels auch in irgendeiner soziologisch-politischen rhetorischen Hohlformel verbreitet werden, um abstrakt alles zu erklären und zu denunzieren, und so der Verteidigung des spektakulären Systems dienen. Denn es ist evident, daß keine Idee über das bestehende Spektakel, sondern lediglich über die bestehenden Ideen vom Spektakel hinausführen kann. Zur wirklichen Zerstörung der Gesellschaft des Spektakels bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten. Die kritische Theorie des Spektakels ist nur wahr, indem sie sich mit der praktischen Strömung zur Negation in der Gesellschaft vereinigt, und diese Negation, die Wiederaufnahme des revolutionären Klassenkampfes, wird sich ihrer selbst bewußt werden, indem sie die Kritik des Spektakels entwickelt, die die Theorie ihrer wirklichen Bedingungen, der praktischen Bedingungen der gegenwärtigen Unterdrückung ist, und die umgekehrt das Geheimnis dessen enthüllt, was sie zu sein vermag. Diese Theorie erwartet keine Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet die neue Formulierung und Verwirklichung der proletarischen Forderungen als eine langwierige Aufgabe. Um zwischen theoretischem und praktischem Kampf künstlich zu unterscheiden – denn auf der hier definierten Grundlage läßt sich die Herausbildung und die Mitteilung einer derartigen Theorie schon nicht ohne eine strenge Praxis begreifen –, es steht fest, daß der dunkle und schwierige Marsch der kritischen Theorie auch zum Schicksal der auf Gesellschaftsebene handelnden praktischen Bewegung werden muß.

204.

Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs, die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein »Nullpunkt des Schreibens«, sondern seine Umkehrung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation.

205.

In ihrem Stil selbst ist die Darlegung der dialektischen Theorie nach den Regeln der herrschenden Sprache und für den von ihnen anerzogenen Geschmack ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in der positiven Verwendung der bestehenden Begriffe zugleich auch das Verständnis ihrer wiedergefundenen fließenden Bewegung, ihren notwendigen Untergang einschließt.

206.

Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muß die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. Die Wahrheit ist nicht »so, wie das Werkzeug von dem dortigen Gefäße wegbleibt [...]« (Hegel.) Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik. Die Umkehrung des Genitivs ist dieser in der Form des Denkens aufbewahrte Ausdruck der geschichtlichen Revolutionen, der als der epigrammatische Stil Hegels betrachtet wurde. Als der junge Marx, dem systematischen Gebrauch Feuerbachs entsprechend, den Ersatz des Subjekts durch das Prädikat empfahl, gelangte er zu der konsequentesten Anwendung dieses aufrührerischen Stils, der aus der Philosophie des Elends das Elend der Philosophie hervorzieht. Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu. Die Entwendung wurde bereits von Kierkegaard bewußt gebraucht und dabei von ihm selbst denunziert: »Wie du dich aber auch drehen und wenden magst: wie der Saft immer in der Speisekammer endet, so kommst du immer dahin, ein kleines Wort einzumischen, das nicht dein Eigentum ist und das durch die Erinnerung stört, die es erweckt.« (Philosophische Brocken.) Es ist die Verpflichtung zur Entfernung von dem, was zur offiziellen Wahrheit verfälscht wurde, die diese Anwendung der Entwendung bestimmt, zu der sich Kierkegaard in dem gleichen Buch auf folgende Weise bekennt: »Nur eine Bemerkung will ich noch machen in Bezug auf deine vielen Anspielungen, die alle darauf abzielten, daß ich entlehnte Äußerungen in das Gesagte mischte. Ich leugne nicht, daß dies der Fall ist, und will jetzt auch nicht verheimlichen, daß es mit Absicht geschah und daß ich im nächsten Abschnitt dieses Stückes, falls ich je einen solchen schreibe, im Sinn habe, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen und dem Problem ein historisches Kostüm anzuziehen.«

207.

Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige.

208.

Die Entwendung ist das Gegenteil des Zitats, der theoretischen Autorität, die stets bereits deswegen verfälscht ist, weil sie Zitat geworden ist; weil sie zu einem aus seinem Zusammenhang, aus seiner Bewegung und schließlich aus seiner Epoche als globalem Bezugsrahmen und aus der bestimmten Option, die es innerhalb dieses Bezugsrahmens war – sei diese richtig oder irrig erkannt – gerissenen Fragment geworden ist. Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Antiideologie. Sie erscheint in der Kommunikation, die weiß, daß sie nicht beanspruchen kann, irgendeine Garantie in sich selbst und endgültig zu besitzen. Sie ist, im höchsten Grad, die Sprache, die kein früherer und überkritischer Bezugspunkt bestätigen kann. Ihre eigene Kohärenz, in ihr selbst und mit den praktikablen Tatsachen, kann im Gegenteil den früheren Wahrheitskern, den sie wiederbringt, bestätigen. Die Entwendung hat ihre Sache auf nichts gestellt, was außerhalb ihrer eigenen Wahrheit als gegenwärtiger Kritik liegt.

209.

Was sich in der theoretischen Formulierung offen als entwendet darstellt, indem es jede dauerhafte Autonomie der Sphäre des ausgedrückten Theoretischen widerlegt, dadurch daß es in sie durch diese Gewaltsamkeit die Tat eintreten läßt, die jede bestehende Ordnung stört und beseitigt, weist darauf hin, daß dieses Bestehen des Theoretischen in sich selbst nichts ist, daß es sich erst mit der geschichtlichen Handlung kennen muß und mit der geschichtlichen Korrektur, welche seine echte Treue ist.

210.

Allein die wirkliche Negation der Kultur bewahrt deren Sinn. Sie kann nicht mehr kulturell sein. So ist sie das, was irgendwie auf der Ebene der Kultur bleibt, dies aber in einem ganz anderen Sinn.

211.

In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur – ihre Erkenntnis wie ihre Poesie – beherrscht, und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik geht allein der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen.

 

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