Veranstaltungen 2011

 

Existentialism Revisited.
Veranstaltungsreihe zu Aspekten existenzialistischer Theorie

Ankündigungs-Text zur Reihe:

"Das Konkrete kann nur die synthetische Totalität sein, von der das Bewußtsein wie auch das Phänomen lediglich Momente bilden. Das Konkrete ist der Mensch in der Welt mit jener spezifischen Vereinigung des Menschen mit der Welt, die zum Beispiel Heidegger ‚In-der-Welt-Sein’ nennt." (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts)

Existentialism Revisited

"Jedes Subjekt setzt sich durch Entwürfe konkret als Transzendenz. Es verwirklicht seine Freiheit nur durch deren Überschreitung auf andere Freiheiten hin. Es gibt keine andere Rechtfertigung der menschlichen Existenz als ihre Ausdehung in eine unendlich offene Zukunft. Jedesmal wenn die Transzendenz in Immanenz zurückfällt, findet eine Herabminderung der Existenz in ein ‚An-sich’ und der Freiheit in Faktizität statt. Dieses Zurückfallen ist, wenn das Subjekt es bejaht, eine moralische Verfehlung; wird es ihm auferlegt, führt es Frustration und Bedrückung; in beiden Fällen ist es ein absolutes Übel. Jedes Individuum, dem daran liegt, seine Existenz zu rechtfertigen, empfindet es als ein unendliches Bedürfnis, sich zu transzendieren. Was nun die Situation der Frau in einzigartiger Weise definiert, ist, daß sie sich – obwohl wie jeder Mensch eine autonome Freiheit – in einer Welt entdeckt und wählt, in der die Männer ihr vorschreiben, die Rolle des Anderen zu übernehmen; sie soll zum Objekt erstarren und zur Immanenz verurteilt sein, da ihre Transzendenz fortwährend von einem essentiellen, souveränen anderen Bewußtsein transzendiert wird. Das Drama der Frau besteht in diesem Konflikt zwischen dem fundamentalen Anspruch jedes Subjekts, das sich immer als das Wesentliche setzt, und den Anforderungen einer Situation, die sie als unwesentlich konstituiert." (Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht)

"Der Existentialismus erscheint also als ein aus dem Wissen herausgefallenes Systemfragment. Von dem Tage an, da der Marxismus die menschliche Dimension (d.h. den existentiellen Entwurf) zur Grundlage des anthropologischen Wissens nehmen wird, hat der Existentialismus keine Daseinsberechtigung mehr: aufgesogen und überschritten und aufbewahrt durch die totalisierende Bewegung der Philosophie, wird er aufhören, eine besondere Untersuchung zu sein, um die Grundlage aller Untersuchungen zu werden." (Sartre, Fragen der Methode)

Den existenzialistischen Theoretiker_innen ging es vielleicht – bis auf den Marxismus – zum letzten Mal in der Geistesgeschichte darum, aufbauend auf einem philosophischen Begriffssystem die Totalität der menschlichen Existenz verstehen zu können. Dieser kühne Versuch scheint gescheitert. In einer Zeit, in der das von Sartre so bezeichnete "analytische Denken", das auf eine effektivere Steuerung von Natur und Mensch durch arbeitsteilige, isolierte Erfassung einzelner Teilbereiche abzielt, anstatt diese wirklich als Glieder einer "synthetischen Totalität" verstehen zu wollen, triumphiert, muss ein solcher Anspruch Skepsis auf sich ziehen. Jedoch treibt auch das Scheitern Blüten, die es wert sind gepflückt zu werden. Die Reduktion des Denkens auf Manipulation bringt ein Unbehagen mit sich, das als "Irrationalismus" abzufertigen voreilig wäre. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, auf rationaler Basis über Dinge zu sprechen, die das analytische Denken vielleicht allzu leichtfertig dem Schweigen und damit der Willkür des individuellen Meinen und Glaubens überantwortet.

Als Kulminationspunkt philosophischer und allgemein humanwissenschaftlicher Diskurse zwischen Descartes und Freud, Marx und Heidegger, Nietzsche und Husserl wies der Existenzialismus bis weit in die Post-Moderne hinaus. Die Beschäftigung mit Camus, Sartre, Heidegger oder de Beauvoir wirft ein neues Licht auf die theoretischen Fragen, die uns bis heute nicht loslassen, weil wir im Wesentlichen nicht über sie hinaus sind. Von den gewissermaßen ewigen philosophischen Fragen abgesehen, handelt es sich um ganz konkrete Probleme kritischer Theorie:

  • Wie ist das Verhältnis von gesellschaftlicher Struktur und individueller Entscheidung?
  • Ist der Mensch primär als biologisches Wesen zu beschreiben?
  • Lässt sich das Werk eines Philosophen von seinem Leben trennen?
  • Was ist der Antisemitismus?

Diesen und anderen Fragen werden wir im Verlaufe dieser Veranstaltungsreihe nachgehen.

Eine umfassende Dokumentation der Veranstaltungsreihe "Der Gangsterboss des Existenzialismus" zum 30. Todestag Jean-Paul Sartre, an die diese Reihe anknüpft, kann auf dem Blog "La vache qui rit" abgerufen werden.

Existentialism Revisited.
Veranstaltungsreihe zu Aspekten existenzialistischer Theorie.

Termine (Ankündigungstext zur Reihe s.o.):

So 16.1.2011, 18h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Film: "Human all too human"
Die BBC-Reihe von 1999 stellt drei bedeutende "kontinentale" Denker vor, die alle direkt oder indirekt dem Existenzialismus verbunden sind: Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Wir wollen uns zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe und als Einstieg in das Thema zusammen die drei Dokumentationen anschauen und darüber diskutieren.

So 30.1.2011, 16h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Lesekreis "Die konkreten Beziehungen zu Anderen"
Das 3. Kapitel des 3. Teils von Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts stellt die Grundbegriffe seiner Sozialphilosophie vor. Es sollte weitgehend einer separaten Lektüre zugänglich sein. Es ist ein längerer Lesekreis auch als Hinführung zur Lektüre von Zur Kritik der dialektischen Vernunft geplant.

So 27.2.2011, 19h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Film: "Dämonen" (D 2000 / Regie: Frank Castorf)
Verfilmung des Romans von Dostojewski auf der Basis von Camus' Umarbeitung des Romans fürs Theater, Die Besessenen.

Mi 2.3.2011 Existenzialistischer Kneipenabend im IVI-Saal
20h: Lesung aus Romanen von Sartre und Camus
22h: Themen-Kneipenabend: Existentialismus
Motto: Schwarzer Rolli, Sonnenbrille, Rotwein & Gauloises ohne Filter - und natürlich: Jazz.
Die Religion und andere Ideale waren entwertet. Der Kommunismus hatte jegliche Anziehungskraft verloren. Gleichzeitig verlangte es die Jugend des französischen intellektuellen Bürgertums nach einer radikalen Individuation, nach einem Ende der bloßen Identität durch den politischen Kampf. In diesem radikal freien Entwurf mussten die Existentialisten jedoch permanent die schmerzhafte Erfahrung der Abhängigkeit dieser Freiheit von den anderen machen; nämlich, dass auf dem Grunde der eigenen Autonomie die Heteronomie liegt.
So in etwa würden wir das Lebensgefühl der existentialistischen Subkultur der 50er Jahre beschreiben, das wir im Themenabend versuchsweise reinszenieren wollen. Einstimmen wollen wir mit einem kleinen Input zu dieser Subkultur sowie mit der Lesung aus Romanen existenzialistischer Autoren wie Sartre und Camus.

Sa/So 5./6. März 2011, 14h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Lektüreworkshop zu Sartre: "Überlegungen zur Judenfrage"
Sartres klassischer Versuch einer philosophisch fundierten Analyse des Antisemitismus aus dem Jahr 1946. Geplant ist ein intensiver Lektüreworkshop über das Wochenende.
Um schneller in die Diskussion einzusteigen, wäre eine vorherige Vorbereitung des Textes, soweit möglich, wünschenswert. Eine Kopiervorlage des Textes wird spätestens eine Woche vorher im Büro des IVI (1. Stock) zu haben sein. Verwiesen sei an dieser Stelle zudem auf die in der 13. und 14. Ausgabe der Zeitschrift "prodomo" ausgetragene Debatte zwischen Tjark Kunstreich und Ingo Elbe über das Verhältnis von marxistischer und existenzialistischer Antisemitismuskritik, die komplett auf der website der Zeischrift online einsehbar ist.

Do 10.3.2011, 20h im IVI-Saal:
Vortrag "Heidegger und der Nationalsozialismus" (Paul Stephan, Emanuel Kapfinger)
Die historischen Fakten zeigen eindeutig, dass Heidegger ein Nazi war. Unter anderem war er als erster nationalsozialistischer Hochschulrektor maßgeblich daran beteiligt, Führerprinzip und nationalsozialistische Gesinnung in den deutschen Hochschulen zu verankern. Doch ist damit bereits das Urteil über seine Philosophie gesprochen? Ob diese selbst durch und durch faschistisch war oder es erst wurde, muss durch ihre immanente Analyse erwiesen werden.
Allerdings erwecken bereits bei oberflächlicher Beschäftigung Themen wie das "Sein zum Tode", der "Ruf des Gewissens", die "eigentliche Entschlossenheit", Wahrheit als vorgängige "Erschlossenheit" oder das "Mit-Sein" als unverbrüchliche Gemeinschaft das Misstrauen.
Im Vortrag werden wir neben einer skizzenhaften Darstellung von Heideggers NS-Engagement vor allem auf "Sein und Zeit" eingehen. Aus der nach 1945 einsetzenden Debatte um seine Philosophie werden wir in erster Linie Adornos Jargon der Eigentlichkeit herausgreifen.

So 13.3.2011, 12-18 Uhr im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Lektüreworkshop zu Heidegger (Auszüge aus Sein und Zeit)
Eintätiger Lektüreworkshop im Anschluss an den Vortrag am Donnerstag. Gelesen werden sollen einschlägige Passagen aus Sein und Zeit. Kopien zur Vorbereitung auf den Workshop sind bereits am Donnerstag verfügbar.

Sa 19.3.2011, 19h im IVI-Saal
Vortrag über Simone de Beauvoir (Andrea Truman)
Andrea Truman wird auf der Basis ihres Buches Feministische Theorie: Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus über die bedeutende feministische Theoretikerin referieren.

Do 31.3.2011, 19:00 im IVI-Saal
Vortrag "Marxismus und Existenzialismus" (Christoph Zwi / Paul Stephan)
Aspekte des Verhältnisses von existentialistischem "drittem Weg", "orthodoxem" Georg Lukács und "extremistischer" Situationistischer Internationale im Spannungsfeld der Ontologien.
{eine ausführliche Ankündigung gibt es unten ↓}

So 3.4.2011, 19h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Film "Der Karski-Bericht"
Erst 2010 veröffentlichtes zusätzliches Material aus Claude Lanzmanns Shoa über den polnischen Offizier und Widerstandskämpfer Jan Karski, der insbesondere als für die Alliierten tätiger Informant über den Holocaust Berühmtheit erlangte.
Claude Lanzmann gehörte lange Jahre zum engeren Zirkel um Sartre und de Beauvoir und ist heute Herausgeber der von ihnen gegründeten Zeitschrift Les Temps modernes. Inwieweit sich dieser Einfluss auf sein Schaffen als Regisseur niederschlägt, ob man seine Filme als irgendwie "existenzialistisch" betrachten kann, ist ein potentielles Diskussionsthema des Abends.

Do 14.4.2011, 19h im IVI-Saal {Terminänderung!}:
Diskussionsworkshop über Heideggers Verhältnis zu Marx. Im Mittelpunkt der Diskussion wird insbesondere Heideggers Kritik an der 11. Feuerbachthese, wie er sie in diesem Interview formuliert: www.youtube.com/watch?v=jQsQOqa0UVc.
Daneben ist ein Referat von Christoph Zwi zur Heidegger-Kritik von Georg Lukács geplant. Alle Interessierten sind herzlich willkommen!
Zur Einführung sei empfohlen eine kleine Debatte von 2008 über Heideggers Marxkritik. Wie ersichtlich ist, steht das gute alte Theorie-Praxis-Problem im Zentrum der Kontroverse:
→ zeilenzwischenraum.blogsport.de/2008/02/14/marx-vs-die-filosofen-01/
→ schorsch.blogsport.de/2008/02/29/heideggers-spiel-mit-dem-pappkameraden/

Der eigentlich für diesen Tag geplante folgende Vortrag muss leider auf einen derzeit noch nicht feststehenden Zeitpunkt verschoben werden:
Vortrag "Der dritte Mann oder Albert Camus" (Andreas Trottnow).
Neben Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gilt Albert Camus als "der" Vertreter des Existenzialismus. Der Romanzier Camus ist immer noch fast jed_er_em Abiturient_in_en ein Begriff; doch wie steht es mit der politischen Wirkung Camus? Was für Verbindungen gab es zwischen Camus und dem Anarchismus? Hat der libertäre Aspekt in seiner politischen Philosophie uns heute noch was zu sagen? Gibt es Verbindungslinien und Kontinuitäten zum "Unsichtbaren Komitee" bzw. dem "Kommenden Aufstand"?

Fr 6.5.2011, 19h im IVI-Saal:
Vortrag "Sartres Aufhebung des Existenzialismus" (Fabian Schmidt).
Jean-Paul Sartres Hinwendung zum Marxismus wird häufig als Bruch mit dem Existenzialismus wahrgenommen. Die von ihm in den Fragen der Methode skizzierte Aufhebung des Existenzialismus zielt jedoch – im Hegelschen Sinne des Wortes – gerade auch auf dessen Bewahrung. Ausgehend von in Das Sein und das Nichts entwickelten Grundgedanken werde ich in meinem Vortrag versuchen, aus Sartres Perspektive das Verhältnis zwischen Existenzialismus und Marxismus näher zu bestimmen.
Themenkomplexe werden insbesondere Bewusstsein und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit sowie Individualität und Gesellschaftlichkeit sein. Anhand ihrer möchte ich die Frage diskutieren, inwieweit Sartres Ansatz als Korrektiv gegen mechanistische Marx-Auslegungen dienen kann.

Fr 13.5.2011, 19h im IVI-Saal:
Vortrag "Simone de Beauvoir heute" (Roswitha Scholz).
Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht spielte in der feministischen Theorie/ Genderforschung lange keine Rolle mehr. In letzter Zeit taucht de Beauvoir aber nicht nur in neu erstellten Überblickswerken zu Klassikerinnen des Feminismus wieder auf, zu ihr und ihrer Theorie wurden inzwischen auch vermehrt Tagungen und Veranstaltungen angeboten (was wohl mit ihrem hundertsten Geburtstag 2008 zusammenhängt). Hie und da erinnert man/ frau sich wieder an sie. Dies dürfte nicht zuletzt einem Selbstreflexivwerden von Feminismus und Genderforschung in der gegenwärtigen Krisensituation geschuldet sein. Dabei stellen sich die Fragen des "Wie weiter?" und "Was kommt nach der Genderforschung?".
In den 1970er Jahren hatte sich insbesondere ein Gleichheitsfeminismus mit dem Slogan "Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht" auf de Beauvoir berufen. Ein Differenzfeminismus bezichtigte sie sodann, männliche Normalitätskriterien auf Frauen anzuwenden. Schließlich wurde ihr in den 1990er Jahren von einem dekonstruktiven Feminismus vorgeworfen, trotz all ihrer Kritik der hierarchischen Geschlechterverhältnisse einem dualistischen Denken verpflichtet geblieben zu sein und eine erneute Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit betrieben zu haben. In dem Vortrag wird eine zeitliche Einordnung des "anderen Geschlechts" und seiner Bedeutung vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltungskritik versucht sowie auf
Aspekte hingewiesen, die durchaus noch heute Aktualität beanspruchen können.

So 29.5.2011, 16h im transLib@IVI (Kettenhofweg130, 3. Stock.):
Lesekreis "Zur Kritik der dialektischen Vernunft"
Der langfristig angelegte Lesekreis von Sartres sozialphilosophischem
Hauptwerk soll mit einer Lektüre der in der deutschen Edition separat veröffentlichten programmatischen Schrift Fragen der Methode beginnen, in der er sich insbesondere mit dem "historischen Materialismus" kritisch auseinandersetzt. Eine Anschaffung des Buches ist sinnvoll.

Do 31.3.2011, 19:00 im IVI-Saal
Vortrag: "Marxismus und Existenzialismus" (Christoph Zwi / Paul Stephan)

Aspekte des Verhältnisses von existentialistischem "drittem Weg", "orthodoxem"  Georg Lukács und "extremistischer" Situationistischer Internationale im Spannungsfeld der Ontologien.

"Man kann nicht die Gesellschaftsordnung der sozialistischen Länder, die ich als "Produktionsgesellschaften" bezeichnen möchte, mit unserer westlichen "Konsumgesellschaft" auf die gleiche Stufe stellen. Die Probleme in diesen Ländern sind nicht die gleichen, und der Kampf der Arbeiterschaft nimmt infolgedessen auch unterschiedliche Formen an.
Aber diesen beiden unterschiedlichen Gesellschaftstypen ist wohl eines gemeinsam: Weder in der einen noch in der anderen "existiert" der Mensch als freies und verantwortliches Individuum.
Der französische Bürger ist zunächst Konsument, aber ein "manipulierter" Konsument, dem man nicht die Wahl dessen läßt, was er zu konsumieren wünscht, und dem man gleichzeitig vorspiegelt, daß er seine Freiheit ausübt, indem er die gleichen Produkte erwirbt wie alle anderen.
Ich habe in einer Frauenzeitschrift in einer Annonce für Badekostüme den außerordentlichen Satz gelesen: "Kühn oder diskret, aber mehr und mehr Sie selbst." Anders gesagt: "Kaufen Sie wie jedermann, um wie niemand zu sein." Darin besteht die Manipulation.
Der französische Bürger ist auch ein Produzent, aber auf diesem Gebiet ist die Entfremdung noch viel klarer. Auf jeder Ebene, sei er Arbeiter, leitender Angestellter oder Student: Sein Schicksal entgleitet ihm vollkommen. Er ist niemals Subjekt, sondern Objekt. Ohne ihn zu fragen, hat man für ihn von außen her den Lohn festgelegt, den er erhalten, oder die Prüfung, die er ablegen soll. Man hat ihn auf die Schienen gestellt, aber nicht er stellt die Weichen.
Dasselbe geht in den sozialistischen Ländern vor sich mit dem Unterschied allerdings, daß das Ziel nicht mehr der Konsum, sondern "die Produktion um der Produktion willen" ist. Die Maschine dreht sich um sich selbst, und das Individuum hat in diesem Vorgang seinen Platz. Dieser Platz ergibt sich rigoros aus den für ihn abstrakten Erfordernissen eines "Plans", an dessen Ausarbeitung er nicht teilgenommen hat. In der Tschechoslowakei beispielsweise ist eine Revolte gegen das entmenschte System der Produktion um der Produktion willen in eine Forderung nach der Freiheit eingemündet." (J-P Sartre 1968)

Ausgehend von der "klassischen" Schaffensperiode Sartres (die Jahre nach der Veröffentlichung seines Hauptwerks Das Sein und das Nichts 1943 bis in die Mitte der 50er) soll im ersten Teil des Vortrags gezeigt werden, dass Sartre bereits hier eine Kritik am traditionellen Marxismus entwickelt, die bis auf den heutigen Tag Ernst zu nehmen ist. Im Mittelpunkt wird dabei Sartres dialektischer Begriff der Freiheit als "Freiheit in Situation" stehen, mit dem er die Grundlage für seine spätere Sozialtheorie in Kritik der dialektischen Vernunft (1960) und seine große psychoanalytische Studie über Flaubert, Der Idiot der Familie (1971/72), legt. Zugleich sollen aus historisch-materialistischer Sicht mögliche Schwachpunkte seiner Theorie aufgezeigt und diskutiert werden.

Im zweiten Teil wird dargestellt, wie Sartres Konzeption von den beiden marxistischen Exponenten kritischer Theorie  – dem eher revolutionär-konservativen (Lukács) und dem eher revolutionär-modernistischen Flügel (Situationist_innen) –  in die Zange genommen wurde, d.h. am jeweils entwickeltsten kommunistischen Anspruch des 20.Jahrhunderts gemessen.

Was jedoch bei näherem Hinsehen die hier widerstreitend aufeinander bezogenen Theorie-Konzeptionen verbindet, was gewissermaßen philosophisch und philosophiekritisch ihr "kleinster gemeinsamer Nenner" ist, mag überraschen, wenn sie an ihrem jeweiligen Anspruch als kritische Theorie der Gesellschaft gemessen werden, wenn man so will also: an ihrer" linken" Positionierung. Es handelt sich nämlich um ontologische Konzeptionen, sowohl was ihre Methoden als auch ihre Resultate wie praktischen Implikationen betrifft. Insofern alle drei Theorien oder Methoden – die existenzialistische, die gesellschaftsontologische und die situationistische – sich an dem von Marx datierenden Anspruch messen, "materialistisch" und kompromisslos rationalistisch, also religionskritisch "wissenschaftlich" zu sein, überrascht es zunächst ebenso, dass sie sich dabei auf ontologische und auf existenzialphilosophische Vorgaben und Standards beziehen, die von dezidiert antimaterialistischen Denkern gesetzt worden waren. Wir denken vor allem an Kierkegaard und Heidegger. Viele der entscheidenden Termini in der Auseinandersetzung um die "linken" Ontologien, die wir hier abgleichen wollen, weil sie für die Auseinandersetzung um Sartre Voraussetzung waren, sind also schlicht gesagt von rechten Theoretikern geliefert worden. Sie mussten erst nach links gewendet, entwendet  oder – wie Marx es von sich und der Hegelschen Philosophie gesagt hat: – umgestülpt werden, wenn es um ihre ideologiekritische Aneignung und Erledigung gehen sollte. Die Devise für diese kritische Methode hat Marx angesichts der politischen Ökonomen formuliert:  ihre "barbarische Auseinanderreißung des Zusammengehörigen" im gesellschaftlichen Sein und Bewusstsein, die verkehrte Darstellung von Wesen, Erscheinungsformen und Zusammenhang der Dinge in den Theorien soll uns keinen Augenblick glauben lassen, sie wäre "nicht aus der Wirklichkeit in die Lehrbücher, sondern umgekehrt aus den Lehrbüchern in die Wirklichkeit gedrungen"; noch die abstrusesten Theorien sind vielmehr bloß die ideologisch verzerrte "Auffassung realer Verhältnisse!"
So bleibt die höchst aktuelle Grundfrage im Streit der drei kommunistischen Ontologien des 20.Jahrhunderts  – der "historisch-genetischen" von Lukács, der "spektakelkritischen" der Situationist_innen und der "phänomenologisch-spekulären Ontologie" Sartres auch für das proletarisierte Individuum im 21. Jahrhundert die Herausforderung: wie es tatsächlich, bewusst und assoziiert, aus dem Hier und Jetzt heraus die materiell gegebenen Zwänge und Determinationen der bestehenden totalitär-warenförmigen Realität einer katastrophalen Klassengesellschaft überwinden und dadurch die notwendige und mögliche Freiheit (auch) zu einer weltgesellschaftlich-kommunistischen Produktions- und Lebensweise ohne Kapital/Lohnarbeit und Staaten erkämpfen kann.

Christoph Zwi ist u.a. als Mitglied des Autorenkollektivs BBZN (Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung) bekannt. Beide Referenten kommen aus Frankfurt am Main.

{weiteres zur Veranstaltungsreihe Existentialism Revisited siehe oben}

IVI transLibLab Weekend 22.-25.9.2011:
Spektakelbuchkurs Nr3

Überregionales Weekend mit gemeinsamer Lektüre & Diskussion folgender Kapitel aus der "Gesellschaft des Spektakels" von Guy Debord: Zeit & Geschichte, Die spektakuläre Zeit, Die Raumaufteilung des Territoriums. Mit Filmen. Beginn Donnerstag um 20 Uhr, Freitag bis Sonntag jeweils 12 Uhr, Abfahrt ab So. 15 Uhr. Keine Vorkenntnisse nötig, Neueinsteiger_innen in die Spektakelkritik: welcome. Zur Vorbereitung gibt es einen Reader.

Zur Einleitung wird am Donnerstag die großartige 190 Minuten Dokumentation "68" von Gudie Lawaetz gezeigt (über die Bewegung der Besetzungen und den Mai 1968 in Frankreich). Siehe dazu auch das neu auf die Seite gestellte Buch von René Vienet: Enragés und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen (1968).

transLibLab ist die queercommunistische bibliothek im IVI, Kettenhofweg 130, Frankfurt Westend.

Spektakel-Film

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels.

Das Buch von 1967 gibt es z.B. hier → . Den Film von 1973 gibt es am einfachsten bei youtube oder bei ubuweb, aber in bedauernswertem Zustand. Für höhere Qualität muss man etwas suchen. Besser als die zirkulierenden z.T. sehr schlecht übersetzten englischen Untertitel sind die von uns erstellten deutschen: Untertitel ansehen / herunterladen).
Protokolle aus vorigen Lektürekursen und sonstige Materialien unter Revolution & Subjekt.

Do 17.11.2011 um 19h - transLib (die queercommunistische Bibliothek im IVI Dachgeschoss, Ffm, Kettenhofweg130)
Was ist Verdinglichung? (Lektürekurs)

Lucaks 1919

Wir lesen & diskutieren den Begründungs-Essay des westlichen Marxismus als Einstieg in das berüchtigte Buch von György Lukács: Geschichte & Klassenbewusstsein. Texte vorhanden, keine marxistischen und philosophischen Vorkenntnisse nötig.
{pdf-Version des Buchs →}

40 Jahre nach dem Tod des bedeutenden marxistischen Theoretikers (1885 – 1971), der als "enfant terrible" des Kommunismus immer höchst umstritten blieb, ist die Kontroverse um sein Werk wieder aufgeflammt. Es dreht sich um "Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats" – so der Titel des großen Essays in seinem Buch von 1923, dessen Wirkungsmächtigkeit im 20.Jahrhundert unbestritten ist und das vor allem die kritische Theorie Adornos und W.Benjamins, aber auch des westlichen Communismus etwa der Situationist_innen zutiefst geprägt hat. Doch Lukács selbst war, als das Buch 1923 erschien, von Marx ebenso wie von Lenin, Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek und den unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Strömungen eines Rätekommunismus und zugleich Partei- und Staatskommunismus durchdrungen, die bis heute ebenso auseinanderdifferenziert wie unaufgehoben geblieben sind.

Das Problematische und dadurch zugleich Anregende dieses Beitrags ist die frühmarxistisch-kritische Aneignung und Entwendung neukantianischer, neuhegelianischer, lebensphilosophischer, ontologischer und soziologischer Denkschulen der bürgerlichen Wissenschaft durch den "Hegelmarxisten" Lukács. Diese Mélange und ihr materialistischer Anspruch (auf eine Wiederherstellung und Erneuerung "der" Marxschen Methode) mit dem Ziel, einen historischen Bewusstseins-"Sprung" im Massenmaßstab bewirken zu helfen, in dem Theorie als Erkenntnis-"Blitz des Gedankens" (Marx) in die effektive Praxis der Revolution für den Communismus umschlagen kann, bleibt nicht nur eine Herausforderung an die Kritik (auch für Lukács’ spätere theoretische Selbstkritik) sondern ist aktueller denn je: weder die in solchen "Westlichen Marxismus" eingespeisten Denkschulen noch die treibenden Kräfte "der wirklichen Bewegung welche den jetzigen Zustand aufhebt" (Marx’ Communismus-Definition) können als erledigt betrachtet werden. Ganz im Gegenteil: gerade nach dem menschheitsgeschichtlichen Zivilisations- und Revolutions-"Bruch" (der Shoa) im 20.Jahrhundert hat sich die materielle Grundlage – und ihr "struktives Zentrum" (Lukács): die Wert- und Warenform, das Geld und Kapital/Lohnarbeit – als Totalität so katastrophisch krisenhaft weiterentwickelt, dass die um sich greifende globale Barbarei sogar dem Alltagsdenken zunehmend "kapitalismuskritische" Impulse aufdrängt. Nur bleiben diese begriffslosen Gefühls- und Staatssozialismen wiederum in eben jenen fetischistischen Formen hängen (die gefährlichste Spielart dieser "Alltagsreligion" ist seit langem der "Antisemitismus"), zunehmend barbarischer werdende Formen "konformistischer Revolte", die erst mit der weltgesellschaftlichen Aufhebung der kapitalistischen, d.h. mehrwertproduzierenden und auf der universalen Warenform beruhenden Produktionsweise durch die bewusst assoziierten selbstbestimmten Produzent_innen selber auflösbar sind.

Der komplexe und vertrackte Verblendungszusammenhang dieser gesellschaftlichen Verkehrungsformen, die dem Warenfetischismus entspringen, wird schon von der Marxschen dialektischen Methode als "Verdinglichung" analysiert. Und weil Lukács in seinem Essay 1923 wie kein anderer diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt materialistischer Revolutionstheorie stellt, fordert er heute die kritische Anstrengung – nicht nur akademischer Wissenschaft, sondern vor allem der eigenständigen, selbsttätigen kritischen Praxis-der-Theorie durch die normalen Lohnarbeitenden (Proletarisierten) und Pauperisierten (Erwerbslosen etc.) – zur erneuten Auseinandersetzung mit all diesen in "Geschichte und Klassenbewusstsein" aufgebotenen und aufgemischten – zum Teil konfus anmutenden – Theorien des gesellschaftlichen Seins und Bewusstseins. (Wir verweisen hier nur auf Axel Honneths subjektivistisches Zurückbiegen der "Verdinglichung" 2005 auf eine reformistische Demokratisierungsdoktrin, welche die Warenproduktionund die gegenseitige "Anerkennung" von Lohnarbeit und Kapital sogar noch als Endzweck der Gesellschaftsgeschichte fixieren will).

Zur Jahreswende soll im Ca ira Verlag ein Sammelband zu der neueren Auseinandersetzung mit Lukács erscheinen unter dem Arbeitstitel "Verdinglichung heute". Er gibt uns den Anstoß für diesen Lektürekurs. In dem geplanten Band wird der Verdinglichungs-Essay von Lukács erneut zugänglich gemacht, er ist dort einer Reihe von kritischen Beiträgen vorangestellt, von denen wir hier einige nennen möchten:

  • Gerhard Stapelfeldt: ‚Katastrophe’ oder ‚Revolution’ – Georg Lukács’ dialektische Kritik des orthodoxen Marxismus 
  • Fabian Kettner: Die Theorie der Verdinglichung und die Verdinglichung der Theorie
  • Biene Baumeister Zwi Negator: Lukács’ Verdinglichungskritik und die situationistische Kritik des Spektakels
  • Tim Hall: ‚Reification, Materialism and Praxis: Adorno’s critique of Lukács‘
  • Hans Martin Lohmann zu Lukács’ Ignoranz gegenüber der Psychoanalyse
  • Gerhard Scheit: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Antisemiten. Wie hat Georg Lukács sich der Waffe der Kritik entledigt?

Unser Lektürekurs sollte auch eine Vorbereitung auf eine breitere Diskussion um die Beiträge dieses Sammelbandes ermöglichen und erleichtern.

Der Lektürekurs wird damit experimentieren, möglichst unbelastet von philosophischem, soziologischem und insbesondere marxistischem Vorwissen-als-Voraussetzung an diesen "Urtext des westlichen Marxismus" heranzugehen. Das heisst nicht, dass sich Teilnehmer_innen, die solche Vorkenntnisse besitzen, "dumm machen" müssten; sondern es bedeutet nur, dass bewusst eine Form der Aneignung von (wie hier bei Lukács) hochkarätig philosophisch und soziologisch aufgeladener Theoriebildung angestrebt werden kann und soll, die zum einen die permanente "Bodenhaftung" der zum heutigen Alltagsleben und Alltagsbewusstsein – das alle Teilnehmer_innen gemeinsam haben – sucht: indem eine solche Lektüre und Diskussion Hegels Anliegen ernst nimmt, jede vermeintliche Unmittelbarkeit als eine "vermittelte Unmittelbarkeit" zu erkennen, das heisst als historisch entstandene.

Damit würde schon "entdinglicht". zum andern bedeutet es die permanent zu fordernde Bemühung der akademisch und/oder marxologisch ausgebildeten "Privilegierten", ihr Fachwissen als Voraussetzung ihres Textverständnisses mitzuteilen, für das Alltagsdenken des Normalzustands der Lohnabhängigkeit "rüberzubringen", d.h. zu vermitteln. Folglich kann weder in der von Lukács behandelten Theorie noch in der Alltagspraxis oder auch politischen Praxis der Lesenden von dem abstrahiert werden, was historisch und sozio-ökonomisch der Wert- und Warenform zugrundeliegt, ihre (durch "stummen Zwang" oder auch offene Gewalt permanent aufrechterhaltene) Voraussetzung bildet: der Klassengesellschaftlichkeit – der sich keine_r entziehen kann –, welche auf dem privaten Klasseneigentum an den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen beruht.

Ein derartiges Experiment kann keine "bruchlose", didaktisch eingängige ("Schulung") oder konfliktfreie Lektüre/Diskussion garantieren, im Gegenteil: die Reflexion der eigenen Situation hinsichtlich "Klassenbewusstsein", (das sich bekanntlich heute als "buckliger Zwerg" des Communismus nicht mehr sehen lassen kann) Klassenlage und Klassenkonflikten ist für sein Gelingen vorausgesetzt.

Gelingen wird der Kurs in dem Grad, in welchem die Assoziation von Fachwissen und Alltagserfahrung ("Produktionswissen" etc.) durch die Teilnehmer_innen entlang den von Lukács’ Text geknüpften Problemknoten so hergestellt wird, dass diese selbständig aufgeknotet werden können. Indem also nicht mehr und nicht weniger als ein Problembewusstsein geschaffen wird, in dessen Herstellung das Gefälle der Klassenlagen und Bildungselemente der Lesenden, ihrer Subsumtion unter die gesellschaftlichen Teilungen der Arbeit, ein Stück weit abgetragen wird, könnte die selbsttätige Kritikfähigkeit aller als gesellschaftliche Individuen sich besser entfalten. "Die queercommunistische Bibliothek möchte sich als ein "Ort der Auseinandersetzung" verstehen, an dem auf theoretisch-sublimierter Ebene das "queering" experimentiert wird – begriffen als (einen Teil der wirklichen Bewegung ausdrückendes) kritisches Durchkreuzen, Aufmischen, Durcheinanderbringen, letztlich emanzipatorisches Aufheben aller "normative orders" oder fixen, verdinglichten, herrschenden Kategorien, Existenzbestimmungen, Daseinsformen und Matrices des gesellschaftlichen und bewussten Seins, welche die schrankenlose selbstbestimmte Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, das sich Selbstzweck ist, hemmen und verhindern und welche in der bestehenden gesellschaftlichen Totalität miteinander verschränkt, voneinander unablösbar sind: wie "Geschlecht", "Privateigentum" und "Klassenfunktion"."

Queering, so begriffen, wird nun auch einen Basistext des "orthodoxen Marxismus", der sich gerade als Erneuerung der ursprünglichen Marxschen radikalen Kritik alles Bestehenden und aller Dogmen verstehen wollte, nicht verschonen. Aber auch die philosophischen Grundlagen der akademischen gender studies – zu denen Kant, Hegel, Husserl, Heidegger und andere "wh(ite)o(ld)men" gehören, mit denen Lukács sich auseinandersetzt – können dieser Kritikmethode nicht entgehen.

Das erste Treffen aller Interessierten am Donnerstag dem 17.11.2011, 19 Uhr, soll der genauen Terminfindung für die mindestens halbjährige Lektüre dienen, die individuellen Erkenntnisinteressen zusammentragen und den hier vorliegenden konzeptionellen Ankündigungstext diskutieren.

transLib: Drei Vorträge
zur Dialektik von Existenzphilosphie und westlichem Marxismus.

Eine kleine Fortsetzung der vergangegen Veranstaltungsreihen "Der Gangsterboss des Existenzialismus" und "Existentialism revisited". Die Vorträge finden jeweils donnerstags, 19 Uhr im Saal des IVI (Kettenhofweg 130) statt.
{zum Ankündigungs-Text →}

Tonaufnahmen der Veranstaltungen gibt es jetzt beim Audio-Archiv →

  • 10.Nov 2011:
    Roswitha Scholz: "Simone de Beauvoir heute"

    Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht spielte in der feministischen Theorie/Genderforschung lange keine Rolle mehr. In letzter Zeit taucht de Beauvoir aber nicht nur in neu erstellten Überblickswerken zu Klassikerinnen des Feminismus wieder auf, zu ihr und ihrer Theorie wurden inzwischen auch vermehrt Tagungen und Veranstaltungen angeboten (was wohl mit ihrem hundertsten Geburtstag 2008 zusammenhängt). Hie und da erinnert man/frau sich wieder an sie. Dies dürfte nicht zuletzt einem Selbstreflexivwerden von Feminismus und Genderforschung in der gegenwärtigen Krisensituation geschuldet sein. Dabei stellen sich die Fragen des "Wie weiter?" und "Was kommt nach der Genderforschung?". In den 1970er Jahren hatte sich insbesondere ein Gleichheitsfeminismus mit dem Slogan "Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht" auf de Beauvoir berufen. Ein Differenzfeminismus bezichtigte sie sodann, männliche Normalitätskriterien auf Frauen anzuwenden. Schließlich wurde ihr in den 1990er Jahren von einem dekonstruktiven Feminismus vorgeworfen, trotz all ihrer Kritik der hierarchischen Geschlechterverhältnisse einem dualistischen Denken verpflichtet geblieben zu sein und eine erneute Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit betrieben zu haben. In dem Vortrag wird eine zeitliche Einordnung des "anderen Geschlechts" und seiner Bedeutung vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltungskritik versucht sowie auf Aspekte hingewiesen, die durchaus noch heute Aktualität beanspruchen können.
  • 24.Nov 2011:
    Christoph Zwi: "Lukács´ Heidegger-Kritik"

    Der philosophische Dichter und Denker im Lande der Richter und Henker – der (prä- und post-) NS-Ideologe Martin Heidegger – hat vor allem auf einem Gebiet zu siegen nicht aufgehört: bis heute wird "Ontologie" in einem stereotypen Reflex gerade auch von Linken allererst mit seinem Namen in Verbindung gebracht. Dass es sich dabei jedoch um eine Pseudo-Ontologie handelt, welche vom "Dasein", "Seienden" und "Seinsgrund" usw. faselt, waehrend sie die begriffliche Bestimmung aller Kategorien und Beziehungen von gesellschaftlichem Sein, Bewusstsein sowie last but not least naturhaften Seinsgrundlagen verbietet und durch Mystizismus ersetzt, dies materialistisch aufzudecken gelang dem Begründer des "westlichen Marxismus", Georg Lukács, dessen ontologische Kritik aber noch immer weithin verdeckt wird von der Adornoschen Ontologiekritik. Ohnehin wird im fachphilosophischen herrschenden Universitätskanon "Ontologie" noch stets pauschal als "vor(erkenntnis)kritische Metaphysik" tabuisiert.
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  • 1.Dez 2011:
    Magnus Klaue: "Abschied von der Geschichtsphilosophie: Adorno, Sartre und die Sehnsucht nach der positiven Freiheit"
    Seit einiger Zeit findet in antideutschen Kreisen verstärkt die zuerst von Jean Améry unter dem Schlagwort vom "Jargon der Dialektik" aufgestellte These Anklang, wonach im geschichtsphilosophischen Entwurf der "Negativen Dialektik" und in der negativen Anthropologie, wie die "Dialektik der Aufklärung" sie entwerfe, eine Verwischung der Grenze zwischen Tätern und Opfern der Shoah und eine Leugnung der moralischen Zurechenbarkeit individueller Handlungen wie auch individueller Leiderfahrung angelegt sei. Dadurch mache sich die Kritische Theorie, entgegen ihren Möglichkeiten, blind für die in keine "Dialektik" auflösbaren Widersprüche der Empirie. In Rückgriff auf die Existenzphilosophie, insbesondere auf Amérys Begriff der Leiberfahrung und Sartres Theorem der "Entscheidung", versucht etwa Gerhard Scheit in seiner Studie "Der quälbare Leib", diesem Defizit beizukommen. Der Vortrag möchte es demgegenüber unternehmen, gerade das oft als "negative Teleologie" abgelehnte Moment des Adornoschen Denkens als notwenige Bedingung geschichtlicher Wahrheitserkenntnis auszuweisen, und daran erinnern, daß an den "Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie" (Odo Marquard), in die jeder denkende Mensch durch die reflektierte Erfahrung der Wirklichkeit gestürzt wird, nicht die Philosophie, sondern die Geschichte schuld ist.

Vortrag am 24.Nov 2011, 19Uhr im Saal des IVI (Kettenhofweg 130)
Die Heidegger-Kritik von György Lukács (Vortrag v.Christoph Zwi)

Der philosophische Dichter und Denker im Lande der Richter und Henker – der (prä- und post-) NS-Ideologe Martin Heidegger – hat vor allem auf einem Gebiet zu siegen nicht aufgehört: bis heute wird "Ontologie" in einem stereotypen Reflex gerade auch von Linken allererst mit seinem Namen in Verbindung gebracht. Dass es sich dabei jedoch um eine Pseudo-Ontologie handelt, welche vom "Dasein", "Seienden" und "Seinsgrund" usw. faselt, während sie die begriffliche Bestimmung aller Kategorien und Beziehungen von gesellschaftlichem Sein, Bewusstsein sowie last but not least naturhaften Seinsgrundlagen verbietet und durch Mystizismus ersetzt, dies materialistisch aufzudecken gelang dem Begründer des "westlichen Marxismus", Georg Lukács, dessen ontologische Kritik aber noch immer weithin verdeckt wird von der Adornoschen Ontologiekritik. Ohnehin wird im fachphilosophischen herrschenden Universitätskanon "Ontologie" noch stets pauschal als "vor(erkenntnis)kritische Metaphysik" tabuisiert.

In der bisherigen transLib-Reihe zum Existenzialismus (2010/2011) wurde indes ein spannender Aspekt sichtbar: Es gibt auch Bemühungen um eine kritische Methode der Gesellschaftsanalyse und ihr entsprechende Ethik, die von Karl Marx' Feuerbachthesen und der Kritik der politischen Ökonomie ausgeht, sich in dieser Perspektive als kommunistisch-revolutionär versteht und gleichwohl sich durchaus als ontologisch basiert begreift. Die phänomenologische oder spekuläre Ontologie von J.P.Sartre, die spektakelkritische der Situationisten und eben die historisch-genetische Gesellschaftsontologie von Lukács wurden bisher benannt. Wenn nun letztere ins Zentrum dieses Vortrags gestellt wird, dann geht es um ein Resümee des Weges, den eine "Neue Ontologie" seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Heidegger- und in der Lukács-Richtung in unversöhnlicher Divergenz eingeschlagen hat.

An jeder Wegmarke erwies er sich erneut als Scheideweg: – ob Kategorien oder ob "Existenzialien" herauszuarbeiten sind, – ob es einen "dritten Weg" zwischen "Idealismus" und "Materialismus" oder zwischen "Rationalismus" und "Irrationalismus" geben kann, – ob Philosophie, Wissenschaft, Theorie und Denken miteinander und mit gesellschaftlicher Praxis revolutionär zusammengehen können, – ob Geschichtlichkeit mit theologischen Deutungsmustern zu interpretieren ist oder immer nur als Veränderung der Gegenständlichkeit durch die Menschen begriffen werden kann, – ob die Subjektivität oder die Objektivität im gesellschaftlichen Sein, in Raum und Zeit für die Analyse der Bewusstseinsformen und Gesellschaftsformen das Entscheidende ist, – und welche Funktion in alledem die Sprache hat … Jede dieser Entscheidungsfragen wurde von Lukács seit 1920 bis 1970 diametral entgegen den Heideggerschen Denkvoraussetzungen gestellt und beantwortet. "Das eigentliche Sein zum Tode, d.h. die Endlichkeit der Zeitlichkeit ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins." (Heidegger) Lukács denunziert dies als Pseudogeschichtlichkeit. "Heidegger will eine theologische Geschichtsphilosophie für den ‚religiösen Atheismus' schaffen." Die Lukács'sche Ontologie arbeitet ideologiekritisch, indem sie materialistisch bloßlegt, dass und wie Sein wesentlich permanentes Anderswerden ist. "Es ist nicht so, dass sich die Geschichte innerhalb des Kategoriensystems abspielt, sondern es ist so, dass die Geschichte die Veränderung des Kategoriensystems ist. Die Kategorien sind also Seinsformen".

Wenn die menschlichen Bewusstseinskategorien die Seinskategorien reflektieren, dann bedeutet ontologische Methode die Analyse von Erscheinungen und Scheinformen in ihrer objektiven Wirkungsmächtigkeit als dialektisches, wesentliches Aufeinandereinwirken der Menschen. Sowohl Lukács als auch Heidegger sprechen von "Verdinglichung". Doch genau mit der fetischismuskritischen Entfaltung dieses Begriffs legt Lukács die "Pseudoobjektivität" der "Fundamentalontologie" Heideggers als subjektivistische, ungeschichtliche – und immer wieder suggestive – Fixierung kapitalistischer Alltagsunmittelbarkeiten bloß. Ihre "philosophische" Mystifikation hilft Menschen in der "Sorge" der gesellschaftlichen Krise, sich dem vorgeblichen "Seinsgeschick" und der "Entschlossenheit", der "Gelassenheit zu den Dingen" und dem "Sein zum Tode" zu unterwerfen.

An dieser Stelle sei auch auf die Gegenaktivitäten () der "Linken Fachschaft am Fachbereich 03″ der Uni Marburg angesichts der dort vom 25.-27.11. stattfindenden Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft verwiesen.

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